Ein bisschen bi…

Sie fand mich auf der Tanzfläche, am Wochenende vor meinem letzten Geburtstag.

Zuerst hatte ich sie nicht wahrgenommen. Sie kam auf mich zu, berührte mich wie zufällig an der Schulter; ich dachte mir nichts dabei. Dann tauchte sie immer wieder neben mir auf, streichelte mir über den Rücken oder den Arm. 

Irgendwann kam sie zu mir her, tanzte mit mir, legte mir die Hand auf die Hüfte und flüsterte mir ins Ohr. Ich schätzte sie auf mein Alter. Zierlich, mit dunkelblonden, glatten Haaren, die ihr kaum bis zu den Schultern reichten, meine Größe. Wir verbrachten die Nacht gemeinsam. Tanzten, küssten, teilten uns Drinks, liefen Hand in Hand durch den Club, sagten, dass wir uns gegenseitig schön fänden, und lachten. Nach ihrem Namen fragte ich sie nie.

Beim Tanzen nahm ich aus den Augenwinkeln ihre Freundinnen wahr, mit denen sie auf der Party war. Sie lächelten mir zu. Meine Freunde hatten mich längst aufgegeben oder besser; an sie abgegeben, aber der Club war klein, es wäre leicht, sie zu finden. Meine neue Bekannschaft war süß und betrunken, ihre Küsse waren sanft und schmeckten nach Wein und nach Bier, ihre Haut war weich und ihre Hand schmiegte sich ziemlich passend in meine. Als sie mich in einem kurzen Moment gegen die Backsteinwand des Gebäudes drückte, mir leicht in die Lippe biss und mir danach herausfordernd in die Augen schaute, wusste ich, dass die Gefühle von Zuneigung nicht nur der grauen, bitteren Pille geschuldet waren, die ich mir früher am Abend mit meiner besten Freundin geteilt hatte.

Gegen halb eins nahm sie mich an die Hand, zog mich zu ihren Freundinnen und verabschiedete sich. „Ich muss nach Hause, ich bin fertig.“ Ich sah ihr an, wie der Alkohol und das Tanzen sie müde gemacht hatten. Ihre Freundinnen nickten ihren Abschied ab aber machten keinerlei Anstalten, sie zu begleiten. 

„Ich bring dich zur Bahn“, sagte ich. Erstens wollte ich sie noch nicht loslassen und zweitens war es eine komische Gegend.
„Nein, brauchst du nicht“, sagte sie, während sie meine Hand fest presste.
„Nein, passt schon“, entgegnete ich und zog sie weg von den lärmenden Bässen und den tanzenden Körpern. Meine Freunde entdeckte ich im Außenbereich vor dem Club in aufgestellten Liegestühlen. „Ich komm gleich wieder.“ – „Ja, ist gut, bis gleich.“

Hand in Hand gingen wir den Berg hoch, der zur nächsten U-Bahn-Station führte. Ich kannte den Weg, war aber seit Jahren nicht mehr hier gewesen. Früher hatte ich hier viel getanzt. Drunken Masters, das waren die ersten DJs gewesen, die wir in dieser Location regelmäßig besuchten.

„Hey, hast du eigentlich einen Freund oder so? Gibt es irgendjemanden bei dir?“
Sie sah mich an. Ich schaute in ihre braunen Augen, ihr hübsches Gesicht.
„Nein, bei mir ist da gerade niemand. Was ist mit dir?“
„Ich bin verlobt. Ich heirate bald, und heute Abend ist der Junggesellenabschied von meinem Mann.“
Ich war perplex. „Habt ihr eine offene Beziehung oder so?“
„Nein“, sagte sie ohne einen Anflug von Scham. „Nein, haben wir nicht. Und ich hab sowas auch noch nie gemacht.“ Dann küsste sie mich.

An der Bahn nahm ich sie kurz in den Arm.
„Vielen Dank, dass du mich zur Bahn gebracht hast. Das war so lieb.“
„Komm gut nach Hause.“ Ich sagte nicht: Schreib mir, wenn du gut daheim angekommen bist. Das war die Aufgabe ihres Mannes oder die ihrer Freundinnen – ich war nur irgendjemand für sie.

Aus der Bahn stieg ein Typ aus. Ich sprach ihn an: „Läufst du runter? Kann ich mit dir laufen?“ Er sah nett aus, und ich wollte nicht alleine den dunklen Weg zurücklaufen. Wir hielten Smalltalk auf dem Weg zum Club, verabschiedeten uns am Eingang, ich sah ihn nie wieder, die kurze Begegnung hatte ihren Zweck erfüllt.

„Na, wie war's? Habt ihr Nummern getauscht?“ Meine Freunde saßen unverändert am gleichen Platz. „Sie ist verlobt“, sagte ich und verzog mein Gesicht.

Sie hatte mir ihren Instagram-Account gegeben, ich hatte sie geaddet. Ich machte mir eine Zigarette an und sah ihr Profil an. Dann entfernte ich sie als Freundin und löschte ihren Kontakt. Für zwei Stunden war ich high gewesen und ein bisschen verliebt, so wie man eben verliebt ist, auf Ecstasy, wenn der oder die andere gut küsst. Aber ich war nicht daran interessiert, ihr auf ihren Stories beim Heiraten zuzusehen.

Am nächsten Tag telefonierte ich mit meiner besten Freundin. Die Nacht hing mir im Nacken, nicht der Alkohol, die Drogen, das Tanzen – nein, das war es nicht. „Ich fühl mich verarscht“, sagte ich am Telefon. „Ich denke, ich hätte es nicht gemacht, hätte ich gewusst, dass sie verlobt ist. Oder vielleicht hätte ich es auch gemacht. Aber ich hätte es wissen wollen, verstehst du? Ich mochte sie.“ Oder vielleicht mochte ich auch nur meine Idee von ihr.

Ich hatte gedacht, dass man mir sagen würde, dass ich übertreibe. Dass es nur eine Nacht war, dass es eben so ist. Aber zu meiner Überraschung dachten alle anders. „Ja, das war nicht fair dir gegenüber. Wenn sie sich in Zukunft selbst befriedigt, wird sie an dich denken – falls dich das tröstet.“ „Was ist denn mit den Menschen, warum sind die alle so gestört?“ „Ich hoffe, du hast ihren Kontakt gelöscht.“ „Was für eine Arschloch-Aktion.“ „Torschusspanik. Sie wollte sich ausprobieren, kurz bevor’s ernst wird. Verständlich, trotzdem uncool. So geht man nicht mit Menschen um, sie hätte es dir sagen sollen, und zwar davor.“

Hätte sie?

Die Reaktionen überraschten mich und sorgten dafür, dass ich mich stärker mit der Situation auseinandersetzte. Wenn man nicht bi ist und mit dem gleichen Geschlecht rumknutscht, ist es kein Cheating. Irgendwie hatte ich das irgendwann mal verinnerlicht. Aber stimmte das? Oder hatte ich unwissend eine Beziehung gecrasht, die kurz davor stand, den „Bund fürs Leben“ zu schließen? Und warum fühlte ich mich schlecht?

Ich kenne viele Paare, die in einer geschlossenen Beziehung leben, bei denen es aber abgesprochen ist, dass es okay ist, wenn die Frau andere Frauen datet oder küsst. Manchmal ist die weibliche Beziehungsperson bi, manchmal nur bi-interessiert (was immer das heißen soll…), und anscheinend sehen die Männer kein oder ein wesentlich kleineres Problem darin, wenn ihre Partnerin andere Frauen küsst, als wenn sie einen Mann küssen würde. Das ist nämlich verboten, Betrug, Vertrauensbruch, Schlussstrich, geht gar nicht. Woran liegt das? Denken Männer, diese Frauen könnten ihnen „nicht gefährlich“ werden, nach dem Motto: Sie hat nicht das, was ich habe (aka einen Penis). Aber werden die anderen Frauen nicht dadurch minimiert, kleingehalten, nicht als gleichwertig betrachtet? Mein Kopf schwirrte von den Fragen, und als ich diese Fragen in meinem Umfeld stellte, erhielt ich klare Antworten: Nein, es gibt keinen Unterschied beim Daten zwischen Frauen und Männern. Zumindest nicht bei meinen Freunden. Und ich schätze die Auseinandersetzungen und die Aussagen meiner Freunde darüber – sie halfen mir, Klarheit zu gewinnen.

Wo Betrug letztendlich beginnt, muss in jeder Beziehung individuell festgelegt werden – es gibt für diese Grenzen keine einheitlichen Regelungen. Es betrifft persönliche Absprachen und Vorstellungen sowie die eigene Auseinandersetzung mit dem Thema.

Bei der besagten Nacht konnte ich nicht sagen, ob ein Betrug gegenüber ihrem Mann stattgefunden hatte. Ich wusste nur, dass sie keine offene Beziehung führten. Aber was sonst abgesprochen war – davon hatte ich keine Ahnung.

Was ich dafür mit Klarheit sagen konnte, war Folgendes: Ich, für mich persönlich, hätte wissen wollen, dass sie sich in einer festen Beziehung befindet, einfach aus dem Respekt heraus, dass man mir gegenüber mit offenen Karten spielt. Für mich spielte es auch keine Rolle, ob die andere Person bi, bi-interessiert oder hetero ist. Für mich zählte das Zwischenmenschliche: respektvoller Umgang und Ehrlichkeit.

Ich denke, hätte ich es gewusst: ich hätte sie nicht geküsst. Sicher bin ich mir aber nicht.

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10/10

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Der Fremde in unserem Garten