Der Fremde in unserem Garten
Ich bin in dem Mehrgenerationenhaus meiner Eltern, in dem ich aufgewachsen bin, zu Besuch. Es ist neun Uhr morgens, wir sitzen gemeinsam am Frühstückstisch. Wir, das sind mein Vater, meine ältere Schwester, ihre Kinder, meine Oma und ich.
„Der Hund hat letzte Nacht wieder angeschlagen. Wann bist du gestern Abend angekommen?“, meine Schwester schaut mich über den Tisch hinüber an. Gegen halb zehn Uhr bin ich gelandet, gegen halb zwölf hat mich mein Vater vom Zug abgeholt. „Irgendwas gegen 23:30 Uhr.“ „Ah, okay, dann war es nicht wegen dir“, sagt sie kauend zwischen zwei Bissen. „Der Hund hat erst gegen drei, halb vier Uhr nachts angeschlagen. Dann war's vielleicht wegen unserem Freund aus dem Garten.“
Fragend sehe ich zu ihr hinüber. „Wer ist unser Freund aus dem Garten?“ Einen kurzen Moment sind am Tisch alle still, so als ob ich die Frage nie gestellt hätte. Die Kleinste versenkt ein Stück Brötchen mit Butter in ihrem Frühstücksei, und ich beobachte, wie die orange Flüssigkeit in Zeitlupe über die Eierschale läuft. Noch ahne ich nichts Böses.
„Also“, sagt meine Schwester dann doch noch. „Da ist dieser Typ. Der kommt alle paar Monate. Irgendwas so um drei oder vier Uhr nachts, deswegen dachte ich, das mit dem Hund war wegen ihm vielleicht.“ Ich starre sie an, meine Aufmerksamkeit hat sie. In meinem Kopf klingelt eine kleine Alarmglocke. Was für eine Geschichte packt sie denn jetzt bitte aus? Ich sage erstmal nichts und höre einfach weiter skeptisch zu.
„Naja, dieser Typ, auf jeden Fall, er lässt den Motor laufen, darum wache ich auch auf. Und dann geht er meistens kurz in den Garten, so irgendwas zwischen zehn und fünfzehn Minuten, und dann kommt er wieder und fährt weg. Und das Komische daran ist, er lässt den Motor immer laufen.“
Das Komische daran ist, er lässt den Motor laufen. Meine Augen sind geweitet und meine Stirn ist in Falten gelegt. Ich habe aufgehört zu essen und starre sie an. Das Komischste daran ist sicherlich nicht, dass der Typ seinen Motor laufen lässt, denke ich, aber sage erstmal nichts. Aber ich habe Fragen. Und zwar viele.
Nach weiteren zwanzig Minuten habe ich mir anhand einiger Fragen einen relativ klaren Überblick über die Situation schaffen können und weiß jetzt Folgendes: Mein Vater ist auch schon aufgewacht durch den Besuch des Fremden (ich weigere mich, ihn „den Freund“ zu nennen), er hält es aber nicht für notwendig, weiterhin darauf zu reagieren, sondern steigt mit dem Satz: „Bei uns gibt’s doch nichts zu holen, und sowieso stehen hier ständig alle Türen offen“ in das Gespräch genauso schnell ein wie wieder aus.
Meine Schwester ist ähnlich unbesorgt: „Keine Ahnung, wer das ist. Ich habe sogar schon die Kennzeichen aufgeschrieben, zweimal sogar, weil er mit unterschiedlichen Autos kommt. Leider habe ich die Zettel verloren. Einmal bin ich aufgewacht, da habe dann auch den Rolladen hochgezogen, das hat er gehört. Da ist er schnell wieder in sein Auto, ist eine Runde gefahren, kam wieder, saß noch zehn Minuten vor dem Haus, aber dann hat er sich verzogen.“
Die allgemeine Devise meiner Familie lautet hier also: Wir machen hier mal gar nichts. Dass der Mann regelmäßig, bereits seit eineinhalb Jahren alle paar Monate unserem Garten einen Besuch abstattet, scheint auch keinen zu stören.
Bei mir sitzt der Schock tief. In mir krabbelt eine Angst hoch, die ich von den Momenten kenne, in denen ich in anderen Ländern gewohnt habe und überfallen wurde. Einmal mit dem Messer hier, einmal von einer Gang kleiner Jungs da. Einmal von einem Typ, der versucht hat, mir mein Handy aus der Hand zu klauen, während ich mit meinem Auto liegengeblieben bin und er vorgab, mir helfen zu wollen. Aber das sind alles andere Geschichten.
Ich bleibe bei meinen üblichen Coping-Strategien und verstärke die bereits vorhandenen. Rolladen immer runter, meine Türen immer abschließen. Manchmal schlafe ich jetzt mit Licht. Ich erzähle meinen Freunden von der Geschichte von dem Fremden aus dem Garten, oder so wie meine Familie ihn nennt: dem Freund aus dem Garten. Natürlich haben wir einen Haufen Ideen und ein paar Verdächtige.
„Was glaubst du, was es ist, Frida? Liegt da ein Schatz bei euch im Garten? Oder lagert dort jemand seine Drogen? Hast du mal nachgesehen?“ In warmen Sommernächten, wenn wir auf meiner Terrasse sitzen und Bier trinken, steht manchmal jemand auf und streunt durch den Garten. „Nur mal schauen, ob ich was finde, man weiß ja nie“, heißt es dann. Aber meistens, wenn wir darüber sprechen, endet die Diskussion wie folgt:
„Frida, was glaubst du: Wer ist verrückter, der Typ aus eurem Garten oder deine Familie?“