Die Sache mit A., Teil 2 oder: Orangenmarmelade
Ich denke, wir haben noch etwas Zeit. Obwohl sie oft sagt, dass es ihr nicht gut geht und sie an manchen Tagen sehr schwach ist, treten noch keine terminalen Phänomene auf.
Bevor meine eigene Großmutter starb, begann sie sich in ihren Träumen oder in wegdämmerten Schlaf-Wach-Zuständen mit Menschen zu treffen, die bereits verstorben waren. Das ist nicht ungewöhnlich und in der Hospiz- und Palliativpflege ein oft beobachtetes Phänomen. Meine Oma traf sich in ihren Träumen unter anderem mit ihrer verstorbenen Schwester. Gemeinsam gingen sie spazieren, redeten, waren beieinander. Ihre Schwester war damals bereits seit über zehn Jahren tot. Zu Lebzeiten hatten sie ein enges Verhältnis. Auch ihren im Krieg verstorbenen ältesten Bruder traf sie oft.
Sie erzählte uns von diesen Treffen, sagte auch ganz bestimmt: Heute treffe ich diesen oder jenen, nachher sehe ich noch ihn oder sie, der oder die waren vorhin hier.
Diese Art des terminalen Phänomens wird in der Psychologie als eine Verarbeitungsstrategie gedeutet. Die Person verarbeitet noch einmal Dinge aus dem Unterbewusstsein, trifft sich mit Menschen, die eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielten, und arbeitet Erlebnisse auf, die sie tief bewegt haben. Die spirituelle Sichtweise sieht darin eine Übergangsphase. Oft gehören auch Visionen dazu: Man sieht Menschen, die nicht mehr unter uns weilen, und viele Sterbende berichten von Besuchen Verstorbener – so auch meine Großmutter. Nicht alle Sterbenden erleben das, aber wenn es auftritt, deutet es auf den Beginn des Sterbeprozesses hin. Der Zeitpunkt kann dabei zwischen Stunden und Tagen variieren; selten dauert es länger als eine Woche.
Aber wie gesagt, bisher gibt es keine Anzeichen davon. Es ist Woche drei. Mit wenigen Unterbrechungen schlafe ich seit 21 Tagen jeden zweiten Tag neben ihrem Bett. Mein Schlafrhythmus ist inzwischen völlig gestört: In den meisten Nächten ruft sie zwischen 23 Uhr und Mitternacht, gegen 3 Uhr und 3:30 Uhr morgens, und zwischen fünf und sieben sowie um acht. Ein paar Tage rief sie jede Stunde – wir sind fast verrückt geworden.
Wenn sie ruft, holen wir sie aus dem Pflegebett, helfen ihr, sich aufzurichten, heben ihre Beine aus dem Bett, unterstützen sie beim Aufstehen, halten sie fest, setzen sie in den Rollstuhl und begleiten sie auf die Toilette – danach alles wieder rückwärts. Wir wärmen die Wärmflaschen nach, schütteln das Bett, lagern sie richtig, geben ihr nach Bedarf Schmerzmittel.
Inzwischen ruft sie uns – nach einem langen Gespräch – nicht mehr so oft. Meistens bleibt es bei dreimal in der Nacht. Weil sie aber zwischen diesen drei Rufen so unruhig ist – sie redet mit Gott, betet, stöhnt vor Schmerzen, seufzt vor Langeweile oder spricht in Albträumen vor sich hin – ist es beinahe unmöglich, zu schlafen. Also bin ich ausgewandert – in ein anderes Zimmer, auf dem gleichen Stockwerk. Wir haben eine Klingel installiert. Diese ist gruselig laut und reißt mich nachts brutal aus dem Schlaf – man kann die Lautstärke nicht verstellen.
Inzwischen ist das aber alles egal geworden, denn nachdem ich das erste Mal geweckt wurde, kann ich nicht mehr einschlafen; abgesehen davon wache ich auch in meinen dienstfreien Nächten nun immer um die gleiche Zeit auf: Mitternacht, drei Uhr morgens, sechs Uhr morgens.
Herzlichen Glückwunsch, mein Schlafrhythmus ist offiziell gefickt.
Letzte Nacht ging sie spät ins Bett. Unüblicherweise rief sie mich um ein Uhr und um fünf Uhr; um halb sieben und um acht – meine Schlafbilanz der vergangenen Nacht belief sich dann auf zwei Stunden: 23 bis ein Uhr morgens.
Um zwei Uhr gab ich den Versuch auf, wieder einzuschlafen: Ich las, räumte die Küche auf, deckte den Frühstückstisch, wanderte durchs Haus, lag schlaflos mit offenen Augen in meinem Bett.
Dementsprechend sinkt meine Leistungsfähigkeit über den Tag: Mein Geduldsfaden ist kürzer, meine Aufmerksamkeitsspanne leidet sehr – ich höre meiner Dozentin am Vormittag kaum zu. Ich steuere dagegen mit Sport; aber ich habe eh nicht viel Zeit. Nach meinem Kurs gehe ich wieder zu ihr. Ich halte mich mittags vom Schlafen ab, etwas, das ich daheim dauernd mache, aber hier nie. Abends falle ich wie ein Stein um 20:30 Uhr ins Bett.
Sie dagegen ist den Tag über meist putzmunter, zumindest in den Stunden, in denen sie wach ist. Denn sie führt auch tagsüber den Rhythmus der Nacht weiter: Wach sein für ca. 1,5 Stunden, Schlafen für eine Stunde – alles so pi mal Daumen. Aber in der Zeit, in der sie wach ist, ist sie klar im Kopf und tatsächlich ziemlich munter – so munter, wie man mit beinahe 100 Jahren sein kann.
Wir haben neue Projekte angesteuert diese Woche: Orangenmarmelade. Die Zutaten sind besorgt, es ist ein Drei-Tage-Prozess. Sie sitzt in ihrem Rollstuhl in der Küche, über ihrem blauen Kleid eine weiß-grün gestreifte Schürze. Sie sieht kaum auf die Arbeitsplatte, geschweige denn auf den Herd, aber sie dirigiert uns herum und sagt uns, was wir tun sollen. Sie verbietet uns außerdem, das Marmeladenprojekt auch nur einen Schritt weiterzuführen, ohne ihre Aufsicht. „Macht das nicht ohne mich“, sagt sie andauernd, und manchmal droht sie uns beinahe.
Wenn die einzelnen Kochschritte nach ihrer Anleitung ausgeführt sind, leitet sie uns danach an, wie wir die Küche richtig aufräumen. Mit Adlersaugen beobachtet sie uns, und so gern ich sie auch habe: In der Küche bin ich echt lieber ohne sie.