Das blaue Kleid
Sie liegt vor mir in dem Pflegebett und trägt ein blaues Kleid mit einem gleichmäßigen viereckigen Stickmuster. An den dünnen Fingern ihrer linken Hand trägt sie einen goldenen Ring mit einem großen ovalförmigen, dunkelgrünen matten Stein. Ihre Finger sind so dünn geworden, dass der Stein ständig auf eine Seite rutscht, aber sie zieht den Ring nie aus. Ich weiß nicht, welche Geschichte hinter dem Ring steckt oder welche Bedeutung er für sie hat.
Sie stöhnt leise und ich frage sie, ob sie Schmerzen hat. Sie nickt, ich frage, ob sie Schmerzmittel möchte. Sie schüttelt den Kopf: “Nein, es sind nicht solche Schmerzen,” sagt sie leise. Irgendwo in mir drin habe ich eine Ahnung, wovon sie spricht, irgendwo tief in mir drin weiß ich, was sie meint. Wenn die Seele weint, hilft kein Ibuprofen.
Manche Schmerzen kann man nicht lindern oder heilen, wir müssen mit ihnen leben.
Ich reiche ihr ein Glas Wasser, fahre die Rückenlehne hoch. Sie nimmt winzige Schlücke, leert das Glas kaum. Als sie fertig ist, stelle ich das Glas weg und nehme ihre Hände in meine. “Ich möchte endlich sterben,” sagt sie. “Glaubst du, ich darf bald gehen?”
Als sie mich angerufen haben und mich gefragt haben, ob ich einen Monat in ihr Haus ziehen möchte, um sie zu pflegen, habe ich sofort ja gesagt. Ich war immer gern hier, ich mag sie, sie riefen mich Montags an, ich zog Donnerstags ein. Ich habe ein gutes Körpergefühl und ich mache ungern Arbeit, gegen die sich mein Inneres sträubt, aber da war kein Fünkchen Resignation oder Ablehnung, es war mir sofort klar, ja, ich mache das. Sie mussten es mir nicht sagen, ich wusste auch sofort, was es bedeutet: Das ist Palliativpflege, du wirst sie in den letzten Wochen ihres Lebens begleiten. Wir reden hier eher von Tagen als von Wochen, eher von Wochen als von Monaten.
Nachts wechseln wir uns ab und schlafen abwechselnd in dem Gästebett neben dem Krankenbett, sind da, wenn sie aufstehen muss, um auf die Toilette zu gehen oder geben ihr Schmerzmittel gegen die Schmerzen. Das anstrengendste ist nicht das dauernde Aufwachen und Aufstehen – in manchen Nächten bis zu sieben, acht Mal – sondern ihr ständiges, vor Schmerz verzerrtes Stöhnen.
Tagsüber sitze ich im Wohnzimmer auf den alten beigen Designersofas und lese oder schreibe, blicke in den Garten mit den großen Birken und schaue zu, wie der Januarwind die langen Äste durch den Garten peitscht. Vor mir pfeift der alte Kachelofen, es ist das letzte Jahr, in dem er befeuert werden darf. Das Haus liegt wunderschön und ich sehe hier die schönsten Sonnenauf- und -untergänge.
Seit sie tagsüber die Schmerzmittel ablehnt, lege ich ihr oft meine Hände auf die Schultern, die Schläfen oder die Brust und lasse sie dort einfach verweilen, übe einen ganz zarten Druck auf sie aus und versuche ihr dabei zu helfen, sie selbst noch ein wenig zu spüren.
Obwohl sie viel schläft und unglaublich müde ist, glaube ich, dass wir noch ein bisschen Zeit haben. Als ich sie gestern ins Bett gebracht habe, imitierte sie einen Hund und bellte mich zum Spaß an. Sie erinnerte mich an meine eigene Großmutter, wir lachten, und für einen Augenblick konnte ich die junge Frau erkennen, die in dem schönen Gesicht in diesen fast 100-jährigen Falten versteckt ist.
Wenn sie schläft, verkrieche ich mich in ihren Büchern. Sie ist eine unglaublich belesene Frau, und lese Suter, Walsch, Jakobi. Viele der Bücher in ihren Regalen handeln vom Tod, Sterbeforschung und unterschiedlichen Theorien zum Leben und der Zeit danach, wie zum Beispiel das bekannte tibetische Buch vom Leben und Sterben von Sogyal Rinpoche. Sie war es auch, die mir zwei Bücher von Donald Walsch gab, als ich vor Jahren mit meinen Fragen und meiner unendlichen Traurigkeit zu ihr kam. Ich bat sie um ein Gespräch, sie lud mich ein. Sie hatte Tee und Gebäck aufgetischt und wir saßen in ihrem Wintergarten, mit den Türen offen zum Garten. Geduldig hörte sie mir allen meinen Fragen zu, beantwortete sie, las mir aus der Bibel vor, um ein besseres Verständnis zu geben. Wir weinten gemeinsam, tranken unseren Kaffee, rauchten zusammen ein paar Zigaretten. Es war Juli, es war warm, und unser Zigarettenrauch hing in blauen Schwaden über dem sorgfältig gedeckten Kaffeetisch. Sie erzählte mir von ihrem Nahtoderlebnis, erzählte mir aus ihrem Leben und ihrem Umgang mit dem Tod.
Vier Jahre ist das her, damals schon war sie weit über neunzig. Eine alte Frau, weise und gütig mit ihren grauen Haaren, dem großen Schmuck, dem zierlichen Lächeln. Als ich mich verabschiedete, gab sie mir zwei Bände von Donald Walsch mit: den ersten und den letzten. “Lies sie, es wird dir helfen,” sagte sie.
Ich brauchte Jahre, um die Bücher zu lesen und zu verstehen, und ich habe bis jetzt nur das erste vollständig gelesen. Aber die Bücher begleiten mich, und ich gehe immer wieder zu ihnen zurück. Die Auseinandersetzung mit dem Inhalt ist nicht einfach, im Gegenteil, er ist fordernd, manchmal schwer zu verstehen, oft klagt er mich an, meine (Welt)sicht zu überdenken, viele Passagen muss ich doppelt lesen. Letztlich haben die Bücher meine Sicht auf die Welt, das Leben, den Tod und das Sein verändert und bereichert, und ich finde viel von dem, was in den Büchern steht, in anderen spirituellen Schriften und Ansichten wieder.
Den zweiten, mittleren Band gab sie mir nicht, ich weiß nicht, ob sie ihn nicht da hatte oder ob sie dachte, dass der erste und der dritte Band thematisch wichtiger waren für mich. Ich glaube auch nicht, dass sie sich heute noch daran erinnert, dass sie mir diese Bücher vor Jahren geschenkt hat. Ich habe auch nie nach dem zweiten Band gesucht, hatte das Cover nie gesehen, das Buch nie in einer Bücherei oder einer Buchhandlung zufällig in die Hände bekommen, wie es mir sonst oft mit anderen Büchern geht, viele Bücher begegnen mir ständig “zufällig”, immer und immer wieder.
Als ich nun bei ihr einzog, lag der zweite und für mich somit letzte Band still und unberührt in einer Ecke des Wohnzimmers, ganz so, als hätte er auf mich gewartet. Irgendwie kommen die Sachen dann doch immer zu mir.
“Darf ich es lesen?”, fragte ich sie. Sie nickte stumm und sagte leise: “Ich habe so viele Gespräche geführt in meinem Leben. Ich habe so viele Bücher gelesen und Antworten auf meine Fragen gesucht. In diesen Büchern,” sie zeigte auf das Buch in meiner Hand, “In diesen Büchern habe ich sie endlich alle gefunden.”