Alle Jahre wieder.
Es ist der zweite Weihnachtsfeiertag und wir sitzen alle gemeinsam auf dem Sofa.
Neben und auf mir meine drei Nichten, und weil es ziemlich eng ist, sind wir alle irgendwie ineinander verschlungen: Die eine habe ich im Arm, die nächste streckt mir ihre Füße auf die Beine, die kleinste (die mit ihren zwölf Jahren gar nicht mehr so klein ist) ist mir in den Schoß geklettert und hängt ein bisschen schräg auf mir.
Meine Familie ist groß, und wir singen ungelogen 15 Weihnachtslieder nacheinander. Manche doppelt.
Jedes Jahr in dieser Situation denke ich an das gleiche: Wie eine meiner Schwestern vor ein paar Jahren bei den Zeilen von “Stille Nacht, heilige Nacht, alles ruht, einsam wacht…” anfing, sich zu erbrechen und gar nicht mehr aufhören konnte. Akuter Fall von Magen-Darm, sehr eklig und für einige von uns sehr witzig. Aber dieses Jahr bleibt alles ruhig: Keiner erbricht sich, keiner würgt, alle singen etwas schief, die meisten können den Text nur so halb.
Alles sehr harmonisch, bis die Singerei vorbei ist, dann fängt es an. Meine drei Nichten beginnen, sich zu streiten.
“Schönes Oberteil”, bemerkt die Mittlere in einer Tonlage, die verstehen lässt, dass der Pulli, den ihre kleine Schwester trägt, ihr gehört.
“Schöner Schal”, wirft die Große mit ein.
Ich verdrehe innerlich die Augen – muss das jetzt sein? Teenager. Und weil mir die Kleinste dann leid tut, drehe ich mich zu der, die zuerst gesprochen hat.
“Schöne Hose”, sage ich ironisch. Diese hatte ich ihr bereits vor drei Wochen geliehen. Sie zieht die Augenbrauen hoch. Echt jetzt?
“Schöne Ohrringe”, sagt sie, legt den Kopf schief und lächelt mich an.
Als meine Hand an meine Ohren greift, ertaste ich die kleinen unauffälligen Goldringe, die ich ständig trage. Diese hatte ich von ihr schon im Sommer geborgt. Touché.