Die Sache mit A., Teil 3 oder: der beste Freund

Er hat lange Haare, und er ist sicherlich weit über sechzig – zumindest sieht er so aus. Er ist groß, sein Gesicht ist faltig, seine Augen sind beißend blau, und er hat einen wachen Blick. Ich kenne ihn, und als ich ihn sehe, wie er bei A. am Tisch sitzt, weiß ich sofort, wer er ist: der beste Freund meiner verstorbenen Mutter.

Wir hatten nie wirklich Kontakt. Er kannte mich als Kleinkind – das ist inzwischen bestimmt 28 Jahre her. Meine Mutter ist seit 23 Jahren tot. Er sieht mich und sagt: „Wir kennen uns, richtig?“

Er erkennt mich, aber er kann nicht zuordnen, woher. Ich kläre es nicht auf – was soll ich auch sagen.

Er behandelt A. im Wohnzimmer, wir sitzen im Esszimmer. Es ein großer Raum, getrennt durch eine freistehende Wand und viele Bücherregale. Eine Frau kommt in den Raum. Sie hat lange graue Haare und freundliche Grübchen in den Wangen. Sie fragt mich aus, fragt, wer ich bin. Ich erkläre mein Verhältnis zur Familie. Ich sage, ich bin die Tochter der Schwester meiner Tante. Die Frau fragt: „Welche Schwester?“ und ich nenne den Namen meiner Mutter – obwohl meine Tante nur eine Schwester hatte. Sie wiederholt den Namen meiner Mutter und ich spüre dass da etwas liegt, hinter ihrer Stimme, an der Art wie sie den Namen meiner Mutter ausspricht, aber ich kann es nicht fassen und ich frage nicht nach. Sie schaut mich an, sie schenkt mit ein Lächeln, ihr Gesicht ist ernsthaft und freundlich zur gleichen Zeit.

Später kommt er an den Tisch, setzt sich zu uns, sieht mich lange an. „Ich war der beste Freund deiner Mutter, weißt du“, sagt er. Ich nicke, ich sage: “Ich weiß.” Und ich sage nicht: Aber du siehst sie nicht in mir.

Eine alte Freundin meiner Tante meinte neulich zu mir: „Als du den Raum betreten hast, habe ich für einen Augenblick gedacht, du wärst deine Mutter.“ Und es ist kein komisches Gefühl, mit jemandem verglichen zu werden, den man nie gekannt hat. Aber es ist auch ein komisches Gefühl, wenn die Leute diese Person dann nicht in mir sehen. Und es ist komisch, das Gefühl zu haben, dass ich sie nie gekannt habe.

„Ich weiß“, wiederhole ich nochmal, und für ein paar Minuten hängen meine Worte in der Luft, und alle sind still, und was immer da in der Luft liegt, ich kann es fühlen, aber ich kann es nicht fassen.

Dann ruft mich A., ich stehe auf, gehe zu ihr, und die anderen unterhalten sich ohne mich.

Während ich bei A. lebe, sehe ich ihn einmal die Woche. Wir begrüßen uns, umarmen uns, sprechen oberflächlich über das Leben. Ich halte ihn für weise, ich frage ihn aus über seine Profession. Er erzählt leidenschaftlich – bis ihn jemand unterbricht oder das Gespräch in eine andere Richtung fließt.

Es ist ein komisches Gefühl – ich sitze so nahe an einem Menschen, der so viel über meine Mutter weiß, sie gekannt hat, bevor es uns Kinder gab, der ihr ein Freund war – ein guter Freund. Der sie so gut kannte. Und da sitze ich, ihr Fleisch und Blut, und wenn ich ihre Fotos ansehe, lacht mich ein fremder Mensch an. Da ist Trauer und Wut, aber da ist auch Gleichgültigkeit, weil ich nichts fühle, wenn ich sie ansehe – da ist keine Bindung, kein Geruch, keine Erinnerung. Ich kann mich nicht einmal an ihre Stimme erinnern.

Schon öfter war ich auf der Suche nach ihren Spuren, habe mir Videos von ihr angesehen, und meine Tante sagte: „Diese Bewegung war so typisch für sie“, oder „Erinnerst du dich nicht an ihr Lachen? Schau, genau so hat sie immer geguckt.“ Und alles, was ich spüre, ist Wut und Trauer und Scham, weil ich mir Videos von einem fremden Menschen ansehe, den ich doch eigentlich kennen sollte – weil die Rolle der Mutter in jeder zwischenmenschlichen Beziehung prägend ist und im besten Falle unterstützend und gut, aber für mich da nur eine große Leere und Sehnsucht ist.

Ich habe mich schon hundertmal gefragt, wie es sich wohl anfühlt, eine weibliche Bezugsperson zu haben – eine Mutter, eine Vertraute. Wie es ist, oft in den Arm genommen zu werden, auf Verständnis zu treffen und eine intakte Tochter-Mutter-Beziehung zu erleben. Ich frage mich, was ich mit dieser Beziehung für ein Mensch geworden wäre, welche Ratschläge sie mir gegeben hätte, wie mein Leben anders aussähe, wäre sie da gewesen. Aber am meisten frage ich mich: Was war sie für ein Mensch?

Und auf einmal sitzt mir so viel Wissen über sie gegenüber, ohne dass ich aktiv danach gesucht habe. Und irgendwie erschreckt es mich und lähmt mich, und ich fühle die Scham und Trauer in meinem Hals.

In meiner letzten Woche bei A. fasse ich mir ein Herz. Ich passe ihn ab, ich frage ihn: „Können wir uns mal treffen? Erzählst du mir was über sie?“

Er sagt: „Natürlich. Willst du hier über sie sprechen oder woanders?“ Er beugt sich zu mir, seine blauen Augen blitzen mich an.

„Woanders. Ich kann dich vielleicht besuchen kommen.“

„Mach das“, sagt er, schaut mich wieder so eindringlich an, und ich verlasse den Raum, gehe in den Garten. Der Wind ist kalt, und ich bleibe ein paar Minuten in der Kälte stehen, konzentriere mich auf meinen Atem und lasse den Winter meine Tränen trocknen.

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Die Sache mit A., Teil 2 oder: Orangenmarmelade